RatioBlog
1.
Februar
2015

Fehlschluss #35: Das Argument des gesunden Menschenverstandes

Geschrieben von Michael Hohner am 1. Februar 2015, 19:26:05 Uhr:

Dieses Argument ist gerade wieder in einer EMail-Zuschrift sinngemäß aufgetaucht:

Der gesunde Menschenverstand sagt uns doch schon, dass dieses oder jenes so sein muss oder so nicht sein kann.

Hier wird zu einem einfacheren Denken aufgerufen. Ein Hinterfragen oder eine Analyse soll unterbleiben. Man soll sich stattdessen auf seine Intuition verlassen.

Diesem Argument liegt eine unausgesprochene Prämisse zugrunde, nämlich dass die Intuition verlässlichere Ergebnisse liefert als analytisches Denken. Ist diese Prämisse wahr?

Die wirkliche Welt ist kompliziert, und es scheint, sie wird umso komplizierter, je genauer man hinschaut. Gleichzeitig hat sich das menschliche Gehirn aber nicht dahin entwickelt, möglichst fehlerfrei die Wirklichkeit zu erkennen. Es hat sich stattdessen dahin entwickelt, um zu überleben. Ein Irrtum ist in der Evolution akzeptabel, solange er nicht zu einem reduzierten Überleben führt. Hier kann man das vielzitierte Beispiel des Rascheln im Gebüsch anführen. Das Rascheln könnte ein Jaguar sein, der sich gerade anschleicht, oder auch nur der Wind. Wenn man wegrennt und es war doch nur der Wind, dann hat man lediglich ein bisschen Energie verschwendet. Wenn man dagegen nicht wegrennt und es war ein Jaguar, dann entfernt man sich mit einiger Wahrscheinlichkeit aus dem Genpool. Die natürliche Auslese unterscheidet also nicht nach Wahrheit oder Irrtum, sondern nur nach dem Irrtum in der ungünstigen Richtung im Gegensatz zur Wahrheit und Irrtum in der Richtung ohne drastische Konsequenzen.

So ist es dann auch wenig überraschend, dass sich im menschlichen Denken eine Menge kognitiver Fehlleistungen etabliert haben. Es gibt einige Sachverhalte, die für Menschen ganz schlecht intuitiv korrekt erfasst werden. Wenn man z.B. rückgekoppelte Systeme betrachtet, dann können Menschen diese nur mit großem Fehler abschätzen. Stellt man zum Beispiel Leuten die spontane Aufgabe „wenn man 1% Zinsen auf eine Einlage von 100 Euro bekommt, wie hoch ist das Guthaben nach 10 Jahren?”, dann wird man in der Regel eine Antwort bekommen, die weit von der richtigen Lösung entfernt ist. Ähnliches erlebt man mit umgekehrt exponentiellen Verläufen, wie beispielsweise dem radioaktiven Zerfall: „Wenn die Halbwertszeit 1 Jahr ist, wieviel Material ist nach 10 Jahren noch vorhanden?” wird in der Regel falsch beantwortet.

Wahrscheinlichkeiten können intuitiv ebenso schlecht abgeschätzt werden. Wir haben eine selektive Wahrnehmung, die die Datengrundlage für unsere Intuition verzerrt. Unser Gedächtnis ist hochgradig selektiv, lückenhaft und manipulierbar. Wir begehen leicht den Bestätigungsfehler. Wir setzen Korrelation und Kausalität vorschnell gleich. Wir haben Schwierigkeiten, uns lange Zeiträume und weite Entfernungen vorzustellen. Wir haben mit allem Probleme, was aus dem Rahmen unserer täglichen Erfahrung herausfällt.

Gegen all diese Unzulänglichkeiten haben wir Krücken entwickelt, wie z.B. Mathematik, Statistik, Logik und auch Schrift (zur Unterstützung unseres mäßigen Gedächtnis). Diese Fähigkeiten sind uns nicht angeboren. Wir müssen sie lernen, und das Lernen und das spätere Anwenden ist Arbeit. Wir sind nicht als Statistiker geboren, wir haben lediglich die angeborene Fähigkeit, Statistik zu lernen. Das konsequente Anwenden dieser Hilfsmittel für unseren Geist und eine Reihe anderer Methoden ist letztlich nichts anderes als das, was wir als Wissenschaft bezeichnen. Sie ist nicht fehlerfrei, aber doch recht erfolgreich, die Realität zuverlässig zu erfassen. Es mag andere, bessere Methoden geben, aber bisher haben wir noch keine bessere gefunden.

Die Aufforderung, uns auf den „gesunden Menschenverstand” zu verlassen ist im Grunde die Aufforderung, die Krücken, die wir so dringen brauchen, wegzuwerfen und wieder nur mit unserer fehlerbehafteten Intuition durch die Welt zu humpeln. Intuition ist ein schönes Mittel, um neue Ideen zu generieren. Ob diese Ideen aber richtig oder falsch sind, das kann uns Intuition nicht zuverlässig beantworten. Dazu braucht man Wissenschaft.

Der gesunde Menschenverstand ist die Menge der Vorurteile, die wir bis zum Alter von 18 Jahren angesammelt haben.

Albert Einstein (wahrscheinlich Falschzuschreibung)