RatioBlog
Kritische Betrachtungen über Naturwissenschaften, Alternativmedizin, Alltagsmythen, Parawissenschaften und Wissenschaft in den Medien

11.
März
2012

Glaube vs. Vernunft, eine Geschichte voller Missverständnisse

Geschrieben von Michael Hohner am 11. März 2012, 19:54:25 Uhr:

Kürzlich machte Ulrich Wickert bei Günther Jauch (beim nur am Rande verwandten Thema des neuen Bundespräsidenten) die Anmerkung, dass Glaube und Vernunft im Gegensatz stehen. Daraufhin kam von Jauch selbst sofort das als Frage formulierte Gegenargument „aber können denn Gläubige nicht auch vernünftig sein?”. Auch in anderen Diskussionen findet man oft das verwandte Argument „Religion und Wissenschaft sind unvereinbar”, mit dem analogen Gegenargument „aber es gibt doch religiöse Wissenschaftler”. Welche Seite hat recht?

Vernunft bzw. Wissenschaft (als formale und institutionalisierte Form der Vernunft) ist das Akzeptieren von Tatsachenbehauptungen aufgrund von schlüssigen und starken Indizien. Diese Indizien sind, z. B. in Form von Experimenten, im Prinzip von Jedermann wiederholbar und damit verifizierbar. Wenn starke Indizien den Tatsachenbehauptungen widersprechen, dann werden die Behauptungen nicht akzeptiert, oder wenn sie vorher akzeptiert wurden, werden sie fallen gelassen. Alles Wissen gilt als vorläufig, und Autorität zählt weniger als handfeste Belege.

Glaube bzw. Religion (als formale und institutionalisierte Form des Glaubens) dagegen ist das Akzeptieren von Tatsachenbehauptungen auch ohne starke Indizien, oder sogar trotz starker widersprechenden Indizien. In letzterem Fall gilt man dann als „strenggläubig” oder „tiefgläubig”. Der Erkenntnisprozess ist oft nicht wiederholbar. Erkenntnisse erwachsen oft aus Einzelerzählungen, Offenbarungen oder Erweckungserlebnissen. Diese sind nicht reproduzierbar und damit auch nicht verifizierbar. Erkenntnisse werden durch Autoritätspersonen transportiert und begründet durch heilige Schriften, deren Wahrheitswert als absolut deklariert wird.

Es ist offensichtlich, dass Religion und Wissenschaft als Erkenntnisprozesse in scharfem Gegensatz stehen und damit auch unvereinbar sind. Wissen kann nicht vorläufig sein, und gleichzeitig in heiligen Schriften als absolut wahr festgeschrieben werden, usw.

Was ist aber dann mit den vernünftigen Gläubigen und den religiösen Wissenschaftlern? Es ist ebenso offensichtlich, dass diese existieren. Bei genauerer Betrachtung ist das jedoch kein Widerspruch, denn hier werden zwei unterschiedliche Fragestellungen betrachtet. Erstere ist „stehen die beiden Konzepte im Widerspruch”, letztere ist „können Menschen zwei widersprüchliche Konzepte in einer Person vereinigen”. Die Antwort auf beide Fragen ist „ja”.

Jeder Mensch glaubt etwas im obigen Sinne, akzeptiert also Tatsachenbehauptungen ohne starke Indizien. Im Kindesalter ist das die einfachste und schnellste Methode der Wissensvermittlung. Kleine Kinder glauben das, was die Eltern sagen. Das funktioniert auch ohne voll entwickelte geistige Leistungsfähigkeit und ohne viel Vorwissen, und ist in erster Näherung hilfreich. Kein Kind muss selbst auf die Herdplatte greifen, um die Behauptung der Eltern zu verifizieren, dass die Herdplatte heiß ist und dass das weh tut. Auch im Erwachsenenalter glauben wir. Wir glauben vor allem die „kleinen” Dinge. Wenn jemand sagt, dass er ein Fahrrad in der Garage stehen hat, dann können wir das ohne Weiteres akzeptieren, auch wenn dafür jeglicher Beweis fehlt. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist hoch, und falls es doch nicht stimmt, stellt das kein Problem dar. Wir wären wahrscheinlich mindestens sozial, wenn nicht sogar physisch nicht überlebensfähig, wenn wir jede triviale Behauptung überprüfen wollten und Belege dafür verlangen würden. Kritischer werden wir wohl sein, wenn das Fahrrad angeblich aus purem Gold ist und wir es für nur 1000 € kaufen können. Dann wird aus einer trivialen Behauptung eine besondere, und wir werden dann nicht mehr einfach glauben, sondern wohl verlangen, dass wir mal unter den Lack schauen dürfen.

Erwachsene Menschen glauben auch „große”, nicht-triviale Behauptungen. Auch wenn sie widersprechende Indizien kennen, werden sie so einen Glauben nicht leicht aufgegeben, insbesondere wenn sie in diesen Glauben bereits viel an Zeit, Energie oder auch Geld investiert haben. Das gelingt besonders gut, wenn sie die eigentlich widersprüchlichen Konzepte leicht partitionieren können, also auf getrennte Lebensbereiche begrenzen können, so dass diese Konzepte selten in direkten Konflikt geraten. So kann z. B. ein Geologe vielleicht an die Idee der körperlosen Seele glauben, während er größere Schwierigkeiten hätte, eine Schöpfung in 7 Tagen und die Sintflut als wahre Geschichte zu akzeptieren. Bei einem Neurologen wäre es vielleicht umgekehrt.

Die menschliche Psyche ist erstaunlich flexibel. Sie kann nicht nur gegensätzliche Konzepte für verschiedene Lebensbereiche in der gleichen Person vereinigen. Im Extremfall können Leute sogar zwei sich direkt widersprechende Behauptungen glauben, ohne dass man sie unmittelbar als verrückt diagnostizieren würde. So gibt es Verschwörungstheoretiker, die glauben, dass Bin Laden schon vor dem Mai 2011 tot war. Gleichzeitig sind sie davon überzeugt, dass er nicht von US-Soldaten getötet wurde, sondern immer noch lebt.

Dass zwei Konzepte im Widerspruch stehen, heißt nicht, dass sie nicht in einer Person vereinbar wären. Oder um Jauchs Frage direkt zu beantworten: Gläubige können vernünftig sein, aber just in dem Moment, in dem sie glauben, sind sie es nicht.


P. S.: Jörg Wipplinger hat sich dem Thema gerade auf seine Weise genähert.