RatioBlog
Kritische Betrachtungen über Naturwissenschaften, Alternativmedizin, Alltagsmythen, Parawissenschaften und Wissenschaft in den Medien

12.
Juli
2015

Martin Lambeck: Irrt die Physik?

Geschrieben von Michael Hohner am 12. Juli 2015, 10:24:43 Uhr:

Über alternative Medizin und Esoterik

Martin Lambeck untersucht in seinem Buch diverse Behauptungen der Alternativmedizin und der Esoterik, und zwar aus Sicht des aktuellen Wissensstandes der Physik. Dazu gibt er zunächst einen Schnellabriss eben dieses Wissensstandes, gefolgt von einer Einführung in die wissenschaftliche Methode und aussagekräftige Testverfahren. Danach folgt der Kernsatz des Buches, das „Ketten-Argument”: Man kann ein behauptetes Phänomen so lange in Glieder einer Kette unterteilen, bis man ein oder mehrere Glieder gefunden hat, die rein mit physikalischer Betrachtungsweise untersucht werden können. Sollte sich herausstellen, dass dieses Kettenglied mit dem aktuellen Stand des Wissens nicht vereinbar ist, dann ist entweder diese Wirkungskette gerissen, oder die heutige Physik ist mindestens unvollständig, wenn nicht gar falsch.

Das mag für einen Physiker ein starkes Argument sein. Wenn ich mich in die Sichtweise der Esoteriker versetze, dann ist das weit weniger überzeugend. Dem typischen Mitschwimmer dürfte es egal sein, ob ein Glied in der Argumentationskette mit der aktuellen Physik kompatibel ist oder nicht („Bei mir funktioniert's”, „… mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, …”, usw.). Und für den „fortgeschrittenen” Esoteriker würde das auch kein schweres Problem darstellen, im Gegenteil. Er würde der Aussage „… das würde bedeuten, dass die Physik mindestens unvollständig ist…” wahrscheinlich enthusiastisch zustimmen. Diese Leute sehen sich nicht als Cranks, als Geisterfahrer der Wissenschaft. Sie sehen sich im Gegenteil als die Speerspitze der Aufklärung, als die zukünftigen Einsteins, die befreit von den Zwängen und „Dogmen” der etablierten Wissenschaft in ihren selbstgegründeten Instituten arbeiten und unsere Weltsicht einmal radikal umkrempeln werden. Für diese ist der Widerspruch zu den aktuellen Erkenntnissen nicht ein Problem ihrer Theorien sondern des Standes der Wissenschaft.

Auch rein logisch ist das Argument kein starkes. Wenn man in der Kette der angeblichen Wirkungsweise dieser Phänomene ein fehlerhaftes Glied gefunden hat, dann macht das lediglich diese postulierte Wirkungskette fehlerhaft. Das beweist rein logisch noch nicht, dass das Phänomen auch nicht existiert. Man kann sich deshalb nicht darauf beschränken, dass man den Mechanismus oder die Erklärung als falsch entlarvt. Man muss gar nicht so weit ins Detail gehen. Wie immer sollte man zuerst überprüfen, ob das behauptete Phänomen überhaupt existiert, bevor man sich um eine Erklärung des Phänomens kümmern muss. In diesem Punkt ist Lambeck leider sowohl inkonsequent, als auch viel zu zurückhaltend. Inkonsequent deshalb, weil er selbst in der Einführung diesen Standpunkt vertritt: Erst die Existenz des Phänomens nachweisen, sonst ist alles Spekulation. Und dennoch arbeitet er sich später an den Spekulationen ab statt einfach auf den fehlenden Existenznachweis zu deuten.

Es fehlt leider eine ausführlichere Darstellung von konkreten Überprüfungen der esoterischen Behauptungen. Nur beim Thema Wünschelrutengehen geht Lambeck etwas mehr ins Detail. Bei vielen anderen Themen belässt er es im Wesentlichen beim Hinweis auf die fehlerhafte Theorie. Wenn er sich von biologischen und psychologischen Aspekten der Alternativmedizin explizit fernhält, dann erweckt das den Eindruck, als gäbe es die vielen Untersuchungen der z. B. Plazeboeffekte nicht. Wenn man ein Thema halbwegs rund behandeln will, dann genügt es nicht, darauf hinzuweisen, dass eine physikalische Erklärung wahrscheinlich falsch ist, sondern auch, dass die z. B. psychologische Erklärung wahrscheinlich richtig ist.

Auf diese Weise enttäuscht das Buch leider. Lambeck springt von Thema zu Thema, und man hat ständig den Eindruck, man hätte jetzt die Hälfte des Buchs gelesen, das man eigentlich lesen wollte, aber die zweite Hälfte fehlt. In den einführenden Kapiteln wird die Welt der Physik im Schweinsgalopp erklärt. Wer sich bereits in die Thematik eingelesen hat, für den sind diese Kapitel eigentlich überflüssig. Wer dagegen neu dabei ist, für den ist dieser Teil des Buchs eventuell nicht ausreichend, um Lambecks Standpunkt wirklich zu verstehen.

Ebenso wirkt das Buch stellenweise angestaubt. Dies ist eine erweiterte Auflage von 2014, aber es wurde versäumt, halbwegs aktuelle Beispiele einzufügen. Stattdessen wird auf „jüngste” Ereignisse aus den 1970ern verwiesen. Die Chance einer echten Aktualisierung wurde vergeben.

Wertung:

Martin Lambeck Irrt die Physik? Über alternative Medizin und Esoterik 3. erweiterte Auflage C. H. Beck ISBN 978-3406670961 Amazon