Oktober
2012
Thomas Frank: What's The Matter With Kansas?
Geschrieben von Michael Hohner am 25. Oktober 2012, 08:09:15 Uhr:
How Conservatives Won the Heart of America
Kaum ein anderer ausländischer Wahlkampf wird hierzulande so stark beachtet wie der U. S.-amerikanische. Und kaum ein anderes politisches System der westlichen Welt erscheint uns Europäern so fremd wie das der Vereinigten Staaten, und einige politische Streitthemen und Ansichten kommen uns geradezu bizarr vor. Thomas Franks Buch ist zwar nicht explizit an Europäer gerichtet, bietet aber doch einige interessante Einblicke in die Hintergründe der politischen Entwicklung in den U. S. A. in den letzten Jahrzehnten.
Frank schildert die erstaunlichen Umwälzungen anhand seines Heimatstaates Kansas. Dieser eher unscheinbare, ländliche Staat im mittleren Westen gilt derzeit als fest in republikanischer Hand. Dies ist deshalb bemerkenswert, weil er am Anfang des 20. Jahrhunderts das genaue Gegenteil war. Damals regte sich starker Unmut gegenüber Großindustriellen und privaten Eisenbahngesellschaften. Die wirtschaftlich ausgebeutete Arbeiterschicht formierte sich zur damaligen Populistenbewegung und erreichte in der Folge eine stärkere staatliche Regulierung der Wirtschaft, das Aufkommen von Gewerkschaften und das Stärken der sozialen Sicherungssysteme. Kansas wählte damals mit großer Mehrheit demokratisch.
In den letzten Jahren und Jahrzehnten ist den Republikanern aber die Umkehrung der Verhältnisse gelungen. Die gleichen unterprivilegierten Arbeiter und Farmer wählen heutzutage republikanisch. Die Demokraten werden als „liberale Elite” gesehen, die von den großen Küstenstädten kommend den liberalen Lebensstil landesweit über die Köpfe der Bevölkerung hinweg durchsetzen will. Die Errungenschaften der Populisten, die uns Europäern eher als selbstverständlich erscheinen, werden heutzutage als „Sozialismus” verschrien. Die konservativen Kleinbürger und Arbeiter kämpfen mittlerweile vor allem für ihre moralischen Wertvorstellungen, und beklagen z. B. die Legalität von Abtreibungen, die angebliche Verkommenheit der Medien, die empfundene Fremdbestimmung.
Das Erstaunliche an dieser Situation ist eigentlich, dass die Arbeiterklasse ständig gegen ihre eigenen Interessen wählt. Jedesmal, wenn sie eine republikanische Regierung wählt, dann wird der wirtschaftliche Ausverkauf des mittleren Westens weitergedreht. Arbeitsplätze in der verbleibenden Industrie werden ins Ausland verlagert, Löhne werden gedrückt (z. B. durch importierte ex-und-hopp-Billigarbeiter in der Rindfleischverarbeitung), ganze Stadtteile gleichen Geisterstädten, und die Steuern für die Reichsten der Reichen werden gesenkt (und die Steuerlast auf alle anderen verteilt). Gleichzeitig bleiben die moralischen Anliegen unbeachtet: Abtreibung bleibt weiter legal, die Trennung von Staat und Kirche wird weiter aufrechterhalten, die Medienlandschaft bleibt so wenig reguliert wie zuvor. Die Entrüstungsmaschinerie des Wahlkampfs, die die republikanischen Kandidaten in ihre Ämter gehievt hat, kommt jäh zum Stehen, und wie zuvor dienen die republikanischen Amtsträger vornehmlich der Großwirtschaft. Die konservative Wählerschaft scheint die Erfolglosigkeit ihres Handelns nicht zu erkennen und eher als diffuse Verschwörung der „linken Eliten” zu deuten. Ebenso ist sie blind dafür, dass sie genau die Personen wählt, die sie vorgeblich so verachtet und als dem „echten Amerika” nicht zugehörig ansieht.
Frank beschreibt detailliert, wie es zu einer solchen Verwandlung kommen konnte, wie die Schizophrenie der Situation zu erklären ist.
Das Buch erschien bereits 2004, deckt also nicht die jüngsten Entwicklungen ab. Diese geben Frank aber weiterhin Recht: Die Tea-Party-Bewegung – in dem Buch nicht genannt weil damals noch nicht existent – ist nichts anderes als die landesweite Ausbreitung der konservativen Bewegung des Mittelwestens. Auch die Tea Party setzt sich hauptsächlich aus Anhängern aus der Arbeiterschicht zusammen und wird vor allem durch Moralthemen motiviert. Und dennoch hilft sie mit, einen Mitt Romney zum republikanischen Präsidentschaftskandidaten zu machen, also genau ein solches Mitglied des amerikanischen Geldadels, der als Präsident sicher nicht die moralische Wende Amerikas einläuten, dafür aber sicher die wirtschaftlichen Nöte der Tea-Party-Anhänger vertiefen würde. Dass Romney wahrscheinlich doch nicht der nächste Präsident wird, liegt eher daran, dass er weniger geschickt darin ist, den bodenständigen Mann aus dem Volk zu spielen, anders als es sein republikanischer Vorgänger aus Texas noch konnte.
Einen kleinen Negativpunkt habe ich: Es scheint bei den amerikanischen Verlagen ein ungeschriebenes Gesetz zu geben, dass ein Sachbuch mindestens 250 Seiten lang zu sein hat. Und zwar auch dann, wenn das Thema eigentlich nur vielleicht 150 bis 200 Seiten hergibt. Auch in diesem Fall hat man streckenweise den Eindruck, dass der Text doch stark gedehnt wurde und sich ein paar mal auffällig wiederholt, damit diese Seitenzahl auch erreicht wird. Das Buch könnte weniger langatmig erscheinen und treffender auf den Punkt kommen, wenn die Textlänge dem Inhalt stärker angepasst wäre.
Wertung:
Deutschsprachige Ausgabe: